Impulstext im November 2023

"Weniger ist mehr. Jeder Beitrag zählt". Ein Gedankenspiel zwischen Konsum und Verzicht, Balance und Gewinn

Fast ein halbes Jahr lang war der grosse Coop im Pizol-Center nur zur Hälfte geöffnet. Es wurde renoviert und modernisiert. Fast ein halbes Jahr lang hat das Einkaufen dort richtig Freude gemacht, weil es mich irgendwie an einen orientalischen Markt erinnert hat. Es war chaotisch, laut und eng, das Angebot nicht wirklich sortiert, dafür aber auf das Wichtigste reduziert. Nun wurde der grosse Markt neu eröffnet und übertrifft sich an einer Fülle von Angeboten. Und einmal mehr frage ich mich, wer so viele Produkte braucht.

Natürlich weiss ich, dass im Supermarkt Produkte auf mich als Endverbraucher warten, die bereits eine lange Herstellungs- und Lieferkette hinter sich haben. Und natürlich weiss ich, dass mit jedem einzelnen Schritt Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen. Aber ist das wirklich die Rechtfertigung für so eine Überproduktion?

Ein Bekannter arbeitet in einem der zahlreichen Betriebe, die Teile für die Automobilindustrie herstellen. Er schimpft auf die Energiewende und auf alle, die lieber ÖV als Auto fahren, weil dies auf Dauer den Automobilzulieferern schaden wird. Also sollen wir nun alle weiterhin fleissig Auto fahren, weil zehntausende von Betrieben damit ihr Geld verdienen? Dann müssen wir wohl auch weiterhin fleissig Kriegsmaterial herstellen, denn auch hier verdienen bestimmte Menschen eine Menge Geld. Und ja, auch das Senken der CO2-Emissionen muss wohl relativiert werden, weil die Umstellung auf eine CO2-neutrale Industrie und Logistik einfach zu viel Geld kostet.

Ich bin nun bei Weitem kein Wirtschaftsökonom, aber doch glaube ich, dass Umsatz und Wachstum nicht alles rechtfertigen können. Es braucht ein deutliches Umdenken. Die menschliche Umwelt besteht doch nicht nur aus Produkten und als Mensch bin ich doch auch mehr als nur ein Endverbraucher und ein potenzieller Kunde. Ein ganz entscheidender Aspekt des Menschseins ist doch, dass wir soziale Wesen sind. Menschen, die mit anderen Menschen in Verbindung treten und die sich gegenseitig durchs Leben helfen. Das Leben besteht nicht nur aus Konsum und Verbrauch, sondern... ja, aus was genau besteht denn mein Leben? Neben den Dingen, die das Leben angenehm machen wie jeden Tag eine gesunde Mahlzeit, eine warme Jacke und einen Ort zum Schlafen brauche ich auch so etwas wie Bildung, Kultur, Gesundheitsfürsorge, ein soziales Netz und vielleicht auch eine religiöse Gemeinschaft. Und wie bei allem im Leben muss ich eine Balance finden. Zu viele Mahlzeiten am Tag sind wohl ebenso schädlich wie zu wenig Mahlzeiten. Zu wenig Gesundheitsfürsorge ist ebenso gefährlich wie ein übertriebener Gesundheits- und Körperwahn. Zu viel Religion treibt den Menschen in den Fanatismus und gar keine Religion lässt die Frage nach dem höheren Sinn gar nicht erst zu.

Die ökumenische Kampagne von Fastenaktion und HEKS hat den Slogan: «Weniger ist mehr. Jeder Beitrag zählt». Natürlich zielt die Kampagne zu Recht auf die weltweite Gerechtigkeit und den sozialen Ausgleich ab. Je weniger ich verbrauche, desto mehr bleibt für andere. Je weniger CO2 ich ausstosse, desto besser für die Umwelt. Aber ich sehe in diesem Slogan «weniger ist mehr» nicht nur die Aufforderung zu Bescheidenheit und Verzicht, sondern die Möglichkeit zu einer Neuordnung meiner Lebensbausteine. Je weniger Zeit ich mit Konsum verbringe, desto mehr Zeit habe ich für Kultur. Je weniger Zeit ich mich als Verbraucher sehe, desto mehr Zeit habe ich, etwas zu erschaffen. Je weniger Zeit ich mit social media verbringe, desto mehr Zeit habe ich für mein soziales Umfeld.

Uns interessiert natürlich sehr, wie Sie oder wie Du das mit den Lebensbausteinen siehst und was für dich unbedingt zum Leben dazugehört. Darum veranstalten die Fachstellen beider Landeskirchen einen Impuls-Nachmittag zu diesem Thema: «Weniger ist mehr. Jeder Beitrag zählt» und hoffen auf einen regen Austausch. Es ist schwer genug, sich seinen Platz im Leben zu erkämpfen und diesen dann zu behaupten. Vielleicht wird das Leben einfacher und erträglicher, wenn einer und eine auf den und die andere etwas mehr achtgibt und wenn wir alle wieder lernen, unsere Prioritäten auszubalancieren. Und es hilft auch, sich mit anderen Menschen über eben diese Fragen auszutauschen. Denn das Leben wird garantiert erträglicher, wenn einer den anderen stützt und wir danach schauen, dass niemand auf der Strecke bleibt. Ich persönlich sehe hier nicht nur einen sozialen Auftrag an unsere Gesellschaft, sondern den Auftrag Jesu Christi an alle, die ihm nachfolgen.

Weniger ist mehr ist kein Auftrag zum Verzicht, sondern eine Einladung zum Ausgleich und zu einem friedlichen Miteinander. Und das ist, was ich uns und Ihnen allen von Herzen wünsche.

Eric Petrini