impulstext im August 2023

Die Kirche in Tenna zeugt von Gottesbildern, Glaubensleben und neuen Verbindungen alter Gegensätze

Der Weg nach Tenna im Safiental ist gar nicht so lang, wie es scheinen mag.  Von Chur aus nicht ganz eine Stunde mit Bahn und Bus. Ich liebe es, eine Bergtour früh am Morgen mit einer Fahrt mit dem Postbus zu beginnen und von abgelegenen Bergdörfern meine Wanderung zu starten. Das Ziel an diesem Tag war der Piz Fess. Doch bevor ich losging, wollte ich der Dorfkirche einen kurzen Besuch abstatten. Und ich war sehr beeindruckt von dieser wunderschönen und liebevoll gepflegten Kirche.

Tenna war ursprünglich ein Alpgebiet, dass um 1350 von Safiern besiedelt worden war[i]. Gute 50 Jahre später wurde in Tenna die erste Kirche erbaut und 1408 eingeweiht. Sie wurde im Laufe der Zeit mehrfach umgebaut, erweitert oder auch umgestaltet. So auch im Zuge der Reformation von 1523/24, als die Kirche zu einem nüchternen Predigersaal umgebaut wurde.

1957 erfolgte eine erste grosse Restauration der 550 Jahre alten Kirche und dabei kam ein gotischer Freskenzyklus zum Vorschein, der um 1408 entstanden ist und zu den Hauptwerken des «Weichen Stils» in der Schweiz gezählt wird. Die Fresken wurden im Zuge der Reformation übertüncht und waren jahrhundertelang verborgen. Erst durch die Restaurationsarbeiten kamen die Fresken wieder zum Vorschein und können heute in voller Pracht bestaunt werden. Die Fresken zeigen Szenen aus der Passion Christi mit den für den «weichen Stil» charakteristischen dreidimensional wirkenden Gewändern und dem zarten, verträumten Gesichtsausdruck der Dargestellten. Diesem Freskenzyklus in der kleinen Dorfkirche von Tenna wird heute eine nationale Bedeutung zugeschrieben.

Mich lässt es immer noch und immer mehr erstaunen, dass Menschen selbst in den abgelegensten Gegenden sich neue Lebensräume erschliessen und diese besiedeln konnten. Der Wunsch nach Leben und das Leben zu erhalten und zu entfalten scheint eine immense Kraft zu bieten. Und diese Kraft, die die Sehnsucht nach Leben freisetzt, verneigt sich demütig vor der Kraft des Schöpfers, sodass der Mensch nicht nur kraftvoll seine Lebensräume erobert, sondern auch Orte für das Heilige errichtet, um dort neue Kraft zu schöpfen. Es ist zu bestaunen, an welch unwegsamen Orten Menschen Kirchen und Kapellen errichtet haben und wie kunstvoll sie diese ausgestattet haben, um Gott die Ehre zu geben. Ich weiss nicht, welcher Meister des «weichen Stils» in Tenna die Kirche ausgeschmückt hat, aber ich frage mich, warum er oder sie ausgerechnet dort oben und für wen oder in wessen Auftrag das Fresko angefertigt hat. Haben Handelsreisende auf dem Weg durchs Safiental in Tenna Halt gemacht und haben das Kunstwerk bewundert? Hat ein Bischof das Fresko in Auftrag gegeben? Hat ein reicher Gönner das Kunstwerk gestiftet, um sich zu verewigen und die Dorfkirche aufzuwerten? Oder hat ein oder eine talentierte Bewohnerin von Tenna aus Freude an der Malerei und zur Ehre Gottes die Kirche verziert?

Gute 100 Jahre lang war das Fresko zu sehen und wurde dann aufgrund der reformierten Ideale und neuer religiöser Strukturen im Zuge der Reformation übertüncht. Denn nur das Wort Gottes sollte im Zentrum stehen und nicht das Bild, das der Mensch mit dem Wort verbunden hat. Dabei braucht der Mensch doch Bilder, um die Worte, die er hört, in seinem Leben zu verankern. Aber diese Bilder dürfen eben nicht zu starr sein. Es braucht den Spielraum und auch die Möglichkeit, sich selbst ein Bild zu machen, um das Wort mit der eigenen Lebensgeschichte zu verbinden - und nicht nur die überlieferten Bilder zu übernehmen. Es ist verständlich (und auch richtig), dass die Reformation von Abbildungen und Glaubensformeln Abstand nahm, die den Glauben zu sehr in eine vorgegebene Form pressten und der Entwicklung eigener Glaubensbilder, die durch das Hören des Wortes ausgelöst werden, mehr Raum gaben.

Das Fresko in Tenna wurde nach über 430 Jahren wieder freigelegt und kann heute als das zur Geltung kommen, was es ist: als Ausdruck des Glaubens eines Menschen zu einer bestimmten, vergangenen Zeit. Und so versuche ich in diesem Kunstwerk nicht nur den kulturellen Wert wertschätzen, sondern auch in die Glaubenswelt des Malers einzutauchen. Und ich staune, mit wieviel Hingabe und Mühe die Menschen in vergangenen Zeiten diesen Raum, der dem Heiligen dient, aufgebaut, gepflegt und geschmückt haben.

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Manch einer mag nun fragen, ob es sich wirklich lohnt, eine eigene Kirche für die wenigen Menschen, die noch in Tenna leben, zu unterhalten. Ich frage mich hingegen, wie eigentlich ich meinem Glauben Ausdruck verleihe. Wie schmücke oder pflege ich die (zeitlichen wie auch örtlichen) Räume, die mir heilig sind? Wer hat mich dazu beauftragt? Wer hat mich gesandt? Und für wen schmücke ich diesen Raum, der mir so heilig ist? Und - bin ich nicht selber auch solch ein Raum der Gottesbegegnung? Ich frage mich, wie viele wertvolle Bilder meiner sich stets wandelnden Geschichte mit Gott in meinem eigenen Leben bereits übertüncht wurden?

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Die Kirche ist schon lange nicht mehr das, was sie einmal war. Und das ist auch richtig und wichtig, weil jeder Umbau die Möglichkeit bietet, sich zu entwickeln und die Botschaft Jesu neu und mit Aktualität in die Welt zu tragen. Manchmal kommen beim Umbau alte Schätze zu Tage. Manchmal werden neue Zugänge in die Wände geschlagen. Manche Wände werden abgetragen und manche Wände werden neu mit Bildern verziert, die von der Geschichte Gottes mit den Menschen erzählen. Damals hat der oder die Künstlerin Szenen aus der Passion Jesu Christi gemalt. Heute würde ich vielleicht Szenen malen, in denen Jesus als Friedensstifter auftritt. Wie er die Sünderin in Schutz nimmt. Oder Kinder in die Arme schliesst. Wie er den Lahmen auffordert, seine Bahre zu nehmen oder wie er dem Blinden zum Augenlicht verhilft. Oder Geschichten meines eigenen Lebens, in denen ich ganz deutlich spüren konnte, dass Gott bei mir ist. Vielleicht würde ich die Wand auch einfach weiss lassen und stattdessen das Zwiegespräch mit Gott suchen. Den Raum mit Stille füllen und in der Stille Gott mein Herz ausschütten und mit ihm meine Gedanken diskutieren. Und am Ende malt jemand ein Bild, wie ich in Tenna an die Kirchentür klopfe und frage: «Gott, bist Du da?» Und wie er mir dann antwortet: «ja klar. Komm nur rein und erzähle mir, was Du heute vorhast».

[i] (https://www.surselva.info/Media/Attraktionen/Evangelische-Kirche-Tenna#/article/c4b66adc-b97d-4471-8f49-73e212b959d0)